Interview mit Dr. Olga Geisel zum Thema Computerspiel- und Internetsucht

Porträt von Dr. Olga Geisel

Dr. med. Olga Geisel
ADHS- und Suchtforschung

Dr. Olga Geisel bietet eine Sprechstunde für Computerspiel- und Internetsüchtige an der Charité Berlin an. Sie hat früher selbst gerne Rollenspiele gespielt und ist auch deswegen an der Thematik interessiert, weil sie Mutter dreier Kinder ist, die in einer durchdigitalisierten Welt aufwachsen. Wir haben mit ihr gesprochen.

 DigitalAge Wie sind Sie in der Spezialisierung von Suchtpatient*innen gelandet?

 Geisel:  Im Rahmen meiner psychiatrischen Weiterbildungszeit bin ich in eine Suchtsprechstunde rotiert. Dort wurden vor allem junge Patient*innen mit nicht stoffgebundenen Süchten behandelt, wie Glückspiel-, Computerspiel- und Internetsucht. Ich fand die Arbeit sehr spannend und begann, mich mit der Forschung dieser Thematik zu beschäftigen. Vor einiger Zeit wechselte ich dann in die Kinder- und Jugendpsychiatrie und biete dort eine Suchtsprechstunde für 12- bis 17-Jährige an.

 DigitalAge Wie sieht Ihre Behandlung von Patient*innen aus, die mediensüchtig sind?

 Geisel:  Zu jeder guten Behandlung gehört eine fundierte Diagnostik. Sie besteht aus einer psychiatrischen Untersuchung, einem Gespräch mit Sorgeberechtigten sowie testpsychologischen und körperlichen Untersuchungen. Bestätigt sich eine Störung, lässt sich diese am besten mit Verhaltenstherapie behandeln.

 DigitalAge Anhand welcher Kriterien entscheiden Sie, ob Patient*innen mediensüchtig sind?

 Geisel:  Im Jahr 2013 hat die amerikanische Psychiatrische Gesellschaft die „internet gaming disorder“ in ihr Klassifikationssystem, das dsm-5, aufgenommen. Es wurden Kriterien vorgeschlagen, die wir nutzen, um entsprechende Diagnosen zu erstellen. Wenn 5 der insgesamt 9 Symptome über einen Zeitraum von 12 Monaten bestehen, liegt die betreffende Störung vor. Die Kriterien lauten: die dauernde Beschäftigung mit dem Medium, Entzugserscheinungen, das Bedürfnis, immer weiter und mehr zu spielen. Außerdem missglückte Versuche der Reduzierung des Spielens, Verlust von spielexternen Interessen und Hobbies, das Täuschen von engen Bezugspersonen bezüglich des eigenen Spielens, Gebrauch der Spiele, um negativen Gefühlen zu entkommen, Gefährdung und Verlust von Beziehungen, Arbeit oder Schule und anhaltendes, exzessives Spielen trotz des Wissens um diese Probleme.

 DigitalAge Welche Altersgruppe ist besonders betroffen?

 Geisel:  Besonders betroffen sind 12- bis 17-jährige Jugendliche.

 DigitalAge Was interessiert Sie persönlich an der Behandlung von Menschen mit einer Internet-, Computerspiel- oder Mediensucht?

 Geisel:  Einerseits habe ich eine Sympathie für Rollenspiele, die ich gerne gespielt habe. Andererseits bin ich Mutter von 3 Kindern und die Themen, mit denen die Betroffenen in die Klinik kommen, sind mir nicht fremd. Es ist nicht einfach, eine gesunde Mitte an Medienkonsum zu finden, mit der alle Parteien leben können. Dabei möchte ich mit meiner klinischen Expertise helfen.

 DigitalAge Können Sie Richtwerte nennen, über die hinaus der Medienkonsum ungesund wird?

 Geisel:  Anders als bei stoffgebundenen Süchten sind wir bei Verhaltenssüchten nicht klar in der Lage, festzustellen, ab welcher Menge der Konsum ungesund wird. Die Anfälligkeit für eine Abhängigkeit ist darüber hinaus individuell sehr verschieden. Es gibt Bestrebungen, Richtlinien auszusprechen, wie beispielsweise die schweizerische 3-6-9-12-Jahre-Regel, die auch schon wieder geändert wurde. Das Wort „ungesund“ kann verschiedene Symptome beinhalten, zum Beispiel Hyperaktivität, Konzentrationsstörungen oder Entwicklungsstörungen, hervorgerufen durch den übermäßigen Mediengebrauch. Ob eine Bildschirmzeitbegrenzung eine Sucht verhindern kann, wird in der Zukunft zu prüfen sein.

 DigitalAge Vor diesem Hintergrund dürfte von „übermäßig“ dann ja eigentlich nicht gesprochen werden. Wie gehen Sie mit dem Thema bei ihren eigenen Kindern um?

 Geisel:  Meine Kinder sind noch jung und nutzen Medien noch nicht alleine. Dennoch bin ich gefragt, Konzepte zu erarbeiten und diese dann auch umzusetzen. Das ist eine Menge Verantwortung und nicht immer einfach.

 DigitalAge Es gibt kaum belastbare Untersuchungen, die einen negativen Einfluss des Medienkonsums auf den Menschen, speziell auf Kinder, nachweisen können. Auf welchen Erkenntnissen fußt Ihre Behandlung?

 Geisel:  Es gibt durchaus Untersuchungen, zum Beispiel die deutsche Blikk-Studie, die sich mit Auswirkungen von Medienkonsum auf Kinder beschäftigt. Unsere Sprechstunde fußt auf einer fachgerechten Untersuchung und Diagnostik.

 DigitalAge Eben solche Untersuchungen wie die Blikk-Studie werden stark kritisiert, weil sie statistische Zusammenhänge zwischen der Nutzung und den Auswirkungen herstellen, die aber keine Aussage über das Verhältnis von Ursache und Wirkung machen. In der Tat ist ein solcher Zusammenhang oft nicht herstellbar, alleine aufgrund der individuellen Gegebenheiten jedes Menschen. Wie gehen Sie damit um?

 Geisel:  Die reinen Bildschirmzeiten sind es nicht, die eine Abhängigkeit ausmachen. Es sind viele verschiedene, psychische und genetische Umgebungsfaktoren. Deswegen ist bei zukünftigen Forschungen wichtig, herauszufinden, wer besonders gefährdet ist.

 DigitalAge Welche Auswirkungen haben die digitalen Geräte Ihrer persönlichen Meinung nach auf den Menschen?

 Geisel:  Derzeit wissen wir noch zu wenig, ob die Nutzung digitaler Medien krankheitsverursachend ist. Tatsache ist, dass es Menschen gibt, die einen problematischen Internetgebrauch zeigen, der sie von anderen Lebensaufgaben abhält. Ich denke, dass digitale Geräte, ähnlich wie alle anderen von Menschen erschaffenen Dinge, sehr verschiedene Auswirkungen auf den Menschen haben können. Sie können großen Nutzen oder Schaden mit sich bringen, so wie mit einem Messer eine kunstvolle Statue geschnitzt oder jemand verletzt werden kann.

Interview: Gregor Sawal