Mediensucht – eine populäre Störung? Wie digitale Medien den Alltag verändern können

In diesem Jahr hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die sogenannte „Gaming Disorder“ in die elfte Version der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) aufgenommen. Damit wird die Mediensucht nun öffentlich wahrgenommen.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung veröffentlichte 2017 einen Bericht, nach dem sich die Zahl der Mediensüchtigen im Jugendlichenalter verdoppelt hätte und nun rund 270.000 betrüge. Fakt ist, dass die Screen Time für viele von uns einen erheblichen Teil des Tages in Anspruch nimmt. Kommunikation und Sozialisation ohne das Smartphone ist fast undenkbar, das Arbeiten am Computer zur Normalität geworden. Für viele Kinder hat das digitale Spielen jenes mit Lego bereits abgelöst.

Person mit Smartphone in der Hand sitzt vor einem Laptop.

Computer- und internetbezogene Störungen

Die Verbreitung von computerspiel- und internetbezogenen Störungen hat sich laut der BZgA von 2011 bis 2015 erhöht.

 

Der Mensch lebt zu einem großen Teil im Internet und vor Bildschirmen. Es verwundert nicht, dass manchem*mancher eine Balance zwischen digitaler und analoger Welt zunehmend schwerfällt. Aber was bedeutet was eigentlich? Verschwimmt diese Grenze auch für Leute, die sich auf ihrem Instagram-Account auf eine Weise darstellen, die ihr „wirkliches“ Leben nicht hergibt? Oder handelt es sich hierbei eher um ein generelles Konzept von Social Media? Und was bedeutet es, mediensüchtig zu sein?

Kriterien für eine Mediensucht

Die BZgA beruft sich hierbei auf das Diagnostische und Statistische Manual DSM-5 der American Psychiatric Association. Danach spricht man von einer Störung, wenn fünf der insgesamt neun folgenden Kriterien erfüllt werden:

  • Betroffene Personen beschäftigen sich übermäßig stark mit dem Computer oder dem Internet
  • Sie werden unruhig, ängstlich oder kommen in traurige Stimmung, wenn sie ihre Geräte nicht nutzen können
  • Hobbys und andere Freizeitaktivitäten leiden massiv unter dem Spielen und Surfen
  • Die Medienaktivität wird fortgesetzt, obwohl den Betroffenen bewusst ist, welche sozialen Probleme hierbei entstehen
  • Sie verheimlichen vor anderen, wie stark die Nutzung ist
  • Das Spielen soll beim Abbau negativer Stimmungen helfen
  • Betroffene riskieren Beziehungen, den Job oder andere wichtige Einbindungen, um spielen oder surfen zu können.
  • Trotz dieser Kriterien, deren jeweiliges Ergebnis natürlich auch davon abhängt, wie die Formulierungen ausgelegt werden, gibt es keine klaren Richtlinien, die Eltern an die Hand gegeben werden können.

 

Zahlreiche, fragwürdige Studien

Das hat auch damit zu tun, dass man keine belastbaren Studien über die Gehirnentwicklung von Kindern und Jugendlichen unter Einfluss von Screen Time findet. Die zahlreichen Untersuchungen zeigen widersprüchliche Ergebnisse oder beanspruchen eine Allgemeingültigkeit, der sie nicht gerecht werden.

Untersuchungen aus dem Jahr 2017 ergaben, dass Kinder, deren Mediennutzung ausgeprägt ist, eine höhere Anfälligkeit für Hyperaktivität und Sprachstörungen aufwiesen. 2018 veröffentlichte der US-amerikanische Sender CBS eine Studie zur Gehirnentwicklung von Kindern unter dem Einfluss sozialer Medien. Kernspinntomographien legten nahe, dass der Kortex, der im Gehirn für Sinneseindrücke zuständig ist, bei intensiver Screen Time auf lange Sicht dünner würde. Ein 2017 erschienener, vielbeachteter Essay von Jean Twenge suggeriert einen engen Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und Depression.

Problematisch sind diese Untersuchungen, weil sie nach signifikanten Zusammenhängen zwischen der digitalen Nutzung und einer psychischen Störung suchen. Einen sicheren Rückschluss von der Ursache auf die Wirkung kann keine dieser Studien leisten. Wie soll sie das auch? Es ist aufgrund von individuellen Gegebenheiten wie genetischen Voraussetzungen, dem familiären Hintergrund oder der pubertären Entwicklung extrem schwierig, belastbare Ergebnisse zu erhalten. Die Einzelfälle sind einfach zu unterschiedlich. Umso komplizierter wird es dann, besorgten Eltern die Frage zu beantworten, ob ihr Kind spielsüchtig ist, wenn es täglich 3 Stunden zockt.

Beim US-amerikanischen DimensionU-Wettbewerb spielen Schülerinnen Videospiele gegeneinander.

 

Digitale Medien verändern die Freizeit

Sicher ist, dass die Digitalisierung auch die Welt der jungen Menschen grundlegend verändert hat. Online-Spiele sind elementarer Bestandteil der Kindesentwicklung geworden. Das Tollen auf dem Spielplatz oder das Sportreiben können darunter leiden, müssen sie aber nicht.

Wenn bei wachsender Bildschirmzeit nicht nur die physische Aktivität, sondern auch soziale Kontakte und die schulischen Leistungen abnehmen, leuchtet es ein, das Thema zumindest anzusprechen.

Ähnliche Ad-hoc-Antworten gibt die deutsche Caritas auf ihrer Internetseite und bietet mit dem Programm „Lost in Space“ eine Anlaufstelle für Computerspiel- und Internetsüchtige. Die Medizin ist auf das Thema aufmerksam geworden. In vielen Städten werden Betroffenen Hilfeleistungen angeboten, es gibt Ärzt*innen und Psycholog*innen, die sich auf Mediensucht spezialisiert haben.

Dr. Olga Geisel bietet eine Sprechstunde für Mediensüchtige an der Charité Berlin an. Digital Age hat mir ihr gesprochen. Das komplette Interview findest du hier.

2019 – Gregor Sawal