Ökonomischer Erfolg, Teilhabe und Gleichberechtigung
Im Dezember 2006 verabschiedete die EU Kommission eine Empfehlung hinsichtlich der von ihr identifizierten Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen. Insgesamt acht solcher Kompetenzen waren es, die darin identifiziert wurden, darunter neben Mutter- und Fremdsprachenkompetenzen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen erstmals auch digitale Kompetenzen [1]. Die in der gleichen Empfehlung der EU Kommission als duale Rolle von Bildung hinsichtlich sozialem und ökonomischem Erfolg der Bürger*innen beschriebene Motivation dieser Empfehlung gibt einen ersten Eindruck davon, mit welcher Zielsetzung das DigComp-Framework, das heute Empfehlungen für eine gute und umfassende digitale Bildung gibt, später entwickelt werden sollte. Doch alles zu seiner Zeit, immerhin sollte es noch rund sechs Jahre dauern, bis das DigComp-Framework im Jahr 2013 in erster Version das Licht der Welt erblicken würde.

Zunächst einmal brach 2007 die weltweite Finanzkrise aus, die 2008 zu einer Wirtschaftskrise wurde und auch die EU-Länder traf. Während alle um die Wirtschaft bangen, verschwendet kaum eine*r einen Gedanken an Bildung, so scheint es. Doch dann kommt der Masterplan, die Strategie Europa 2020, eine Agenda um “die Krise zu überwinden und die Wirtschaft der EU auf die Herausforderungen des kommenden Jahrzehnts vorzubereiten”, heißt es. Teil dieses Masterplans ist auch “Eine Digitale Agenda für Europa” [2]. Darin wird unter anderem die Notwendigkeit formuliert, digitale Kompetenzen und Qualifikationen bei den europäischen Bürger*innen aufzubauen und weiterzuentwickeln; und weil das in einer Agenda, die sich so stark auf die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit beruft auch den Verfasser*innen notwendig scheint zu erwähnen, wird dabei gleich am Anfang darauf eingegangen, dass es nicht nur darum geht, kompetenteres und besser verwertbares Humankapital zu gewinnen, sondern dass “[i]m Mittelpunkt des digitalen Zeitalters […] die Befähigung zur Teilhabe und Gleichberechtigung stehen [sollte]” (Eine Digitale Agenda für Europa [2], S. 29).
Vor diesem Hintergrund wird 2013 die erste Version des Frameworks DigComp [3] veröffentlicht. Ziele Bei der Entwicklung von DigComp waren also vor allem der Aufbau digitaler Kompetenzen bei den EU-Bürger*innen zum Zwecke der Vergrößerung wirtschaftlicher Möglichkeiten sowohl der Individuen, als auch der europäischen Volkswirtschaft(en) ebenso wie zum Zwecke der Vergrößerung individueller Teilhabemöglichkeiten und Gleichberechtigung. Gerade letzteres scheint mir DigComp zu einem Framework zu machen, dass den zahlreichen damals wie heute existenten digitalen Bildungsangeboten überlegen ist, bei denen nur sehr spezialisiert Kenntnisse erworben werden können, etwa der Umgang mit Office-Programmen, der Umgang mit Unternehmenssoftware oder der Umgang mit Online-Suchmaschinen.
Begreift man digitale Bildung nicht als ein ganzheitliches Angebot, bei dem auch die Funktionsprinzipien einer digitalisierten Welt Bestandteil des Bildungsangebotes sind, ist die Vermittlung digitaler Kompetenzen letztlich nichts anderes als eine kurzfristige Investition in größeres Humankapital. Das Individuum tritt dabei soweit in den Hintergrund, dass es schließlich mit seiner ökonomischen Arbeitsleistung eins wird und auch nur noch als solche betrachtet wird. Aber was hat man gewonnen, wenn schließlich alle Menschen SAP, Microsoft Word und Excel beherrschen, bei XING und LinkedIn angemeldet sind, aber im Allgemeinen kaum eine*r weiß, wie denn ein Computer funktioniert, geschweige denn ein Verständnis für die neuen Strukturen, die die Digitalisierung in unserer Gesellschaft geschaffen hat, mitbringt. Das Individuum steht der digitalisierten Welt schließlich ebenso hilflos gegenüber wie zuvor, auch wenn es seinen Lebenslauf um einige EDV-Kenntnisse erweitern kann und die Gesellschaft profitiert ökonomisch gesehen auch nur insoweit von den neuen Kenntnissen der Menschen, inwieweit diese zu roboterhaften Tätigkeiten eingesetzt werden können, bei denen keine besondere Kreativität im Lösen von Problemen gefragt ist.
Jenseits ökonomischer Fragestellungen begünstigt eine Bildung, die ausschließlich ökonomische Interessen in den Vordergrund stellt und Fragen der Teilhabe, der Autonomie und Selbstbestimmung der Individuen beiseite lässt, auch eine Gesellschaft in der die Interessen ganzer sozialer Milieus nicht repräsentiert werden. Denn wer in einer digitalen Welt nicht in der Lage dazu ist, seine Interessen auch auf digitalem Weg zu äußern, die*der findet weniger Gehör.
Umgekehrt lässt sich auch beobachten, wie eine mangelnde Medienkompetenz so vieler Menschen von einigen politischen Strateg*innen rechtspopulistischer Parteien dazu genutzt werden kann, mithilfe sozialer Medien eine Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses zu erreichen. Dass rechtspopulistische Parteien derzeit in ganz Europa erstarken, etwa die PIS-Partei in Polen, Front National in Frankreich, die Lega-Partei in Italien, die FPÖ in Österreich und die AfD in Deutschland, um nur einige Beispiele zu nennen, ist nicht nur deswegen möglich, weil es in ganz Europa zahlreiche bereitwillige Wähler*innen gibt, sondern unter anderem auch weil eben diese Parteien die Funktionsweise sozialer Medien gezielt ausnutzen, um Nutzer*innen mit ihren rassistischen Hassbotschaften regelrecht zu überschwemmen. Medienkompetente Nutzer*innen, die ein Verständnis für diese Funktionsweise mitbringen würden, wären vermutlich weniger anfällig für solche Strategien.
Nach all den Volkshochschulkursen und Weiterbildungsangeboten à la “Excel für Einsteiger”, die zumindest in Deutschland lange Zeit das digitale Bildungsangebot geprägt haben, verspricht ein Framework wie DigComp, das die Teilhabe der Bürger*innen als ein wichtiges Ziel neben ökonomischen Interessen sieht, digitale Bildung in Europa endlich auch ein neues Niveau zu heben. Auch im deutschen Bildungssystem will man sich in Zukunft hinsichtlich digitaler Bildung stark an DigComp orientieren [4]. Ob es dadurch gelingt, den Bürger*innen digitale Mündigkeit und Selbstbestimmung zu verschaffen, werden die nächsten Jahre zeigen.
2019 – Manuel Ziegler
Links
[1] RECOMMENDATION OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL of 18 December 2006 on key competences for lifelong learning
Die von der EU Kommission verabschiedete Empfehlung für lebenslanges Lernen identifiziert die folgenden acht Schlüsselkompetenzen:
- Kommunikation in der Muttersprache
- Kommunikation in Fremdsprachen
- Mathematische Kompetenzen und grundlegende Kompetenzen in Naturwissenschaften und Technologie
- Digitale Kompetenzen
- Lernen, wie man lernt
- Soziale und staatsbürgerliche Kompetenzen
- Sinn für Eigeninitiative und Unternehmergeist
- Kulturelles Bewustsein und Ausdruck
Download als PDF: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2006:394:0010:0018:en:PDF
[2] Eine Digitale Agenda für Europa
Als eine der sieben Leitinitiativen der Strategie Europa 2020 befasst sich die Digitale Agenda für Europa damit, wie in Zukunft nachhaltiger wirtschaftlicher und sozialer Nutzen aus einem digitalen europäischen Binnenmarkt gezogen werden kann.
Download als PDF: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52010DC0245R(01)&from=EN
[3] DIGCOMP: A Framework for Developing and Understanding Digital Competence in Europe
Die erste Version des DigComp Frameworks identifiziert 5 Kompetenzbereiche mit insgesamt 21 Kompetenzen und bestimmt für jeden Kompetenzbereich jeweils drei Professionslevel. Sowohl diese Version des Frameworks als auch spätere Überarbeitungen wurden bislang in vielen EU-Staaten zur Entwicklung von digitalen Bildungsinhalten genutzt.
Download als PDF: http://publications.jrc.ec.europa.eu/repository/bitstream/JRC83167/lb-na-26035-enn.pdf
[4] Digitalisierung in der Schulbildung der Bundesrepublik Deutschland
Ein Überblick über den Stand der Digitalisierung in der Bildung an deutschen Schulen.